kontext:

tama:
temporary autonomous museum for all

Soziale Einrichtungen für eine Wanderpopulation in Griechenland
textbeitrag caroline raspé

Das Avliza-Viertel in Menidi-Athen - Fall (1)

Maria Papadimitriou , eine international arbeitende Künstlerin aus Athen, initiierte in Avliza ein interdisziplinäres Projekt unter dem Obertitel "TAMA" (Temporary Autonomous Museum For All).
Im Griechischen bedeutet "TAMA" Opfergabe, es ist jedoch nicht nur eine Gabe, es impliziert gleichzeitig das Versprechen eines Heiligen, für die Gabe auch zu helfen. Diese Hilfe nennt man "VOW". An dem TAMA-Projekt beteiligen sich zur Zeit Architekten, Soziologen, Filmemacher, lokale Bewohner und Künstler.
Maria Papadimitriou fungiert als Mittlerin und Koordinatorin. Nüchtern und präzise betrachtet, geht es bei diesem Vorhaben um die Schaffung von sozialen Einrichtungen für eine Wanderpopulation in Griechenland.
In Avliza leben zur Zeit etwa 250 Familien. Das Gebiet ist nicht an das öffentliche Versorgungssystem angeschlossen. Es gibt kein Zu-und Abwassersystem, keine offizielle Elektrizität, kein Müllentsorgungssystem, geschweige denn öffentliche Telefone, Plätze, Spielplätze, oder gar einen Versammlungsort. Einige Familien leben seit Jahren dort, und es gibt bauliche Ansätze der Verfestigung der Hüttenstruktur. Durch die voranschreitenden Planungen für die Olympiade in Athen liegt das Viertel nun sehr nahe an dem für das Olympische Dorf vorgesehenen Terrain und gerät somit in den öffentlichen Fokus. Seitens der Regierung gibt es Überlegungen, dieses Gebiet in eine große Parklandschaft zu transformieren.
Das Problem der Wanderpopulationen existiert in ganz Griechenland. Wie überall siedeln sich Nomaden auch hier in der Peripherie der Großstädte an. Es handelt sich um eine innere Migrationsbewegung, die sich aus der Suche nach besseren Lebensbedingungen erklärt. Insgesamt existieren 52 dieser nomadischen Gemeinden über das Land verteilt. Die Bewohner dieser Ansiedlungen aus der Peripherie der Großstädte in andere Gebiete umzusetzen, würde bedeuten, ihnen ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Historisch sind diese Wanderpopulationen in Griechenland nie verfolgt worden, man hat sich nicht weiter um diese Menschen gekümmert, sie wurden aber immer geduldet. Die Europäische Union unterstützt derzeit ein finanziell gut ausgestattetes und groß angelegtes Ansiedlungsprogramm für diese Minoritäten in Griechenland. Es hat seinen Schwerpunkt im Bereich der sozialen Einrichtungen und der Organisation der Gemeinden. Das erste mit diesen Mitteln durch die Regierung fertiggestellte Projekt liegt in der Peripherie von Thessaloniki.
Das Ministerium, das für die Integration dieser Minoritäten in die griechische Gesellschaft sowie für die Restrukturierung solcher Gebiete zuständig ist, hat der Anregung von Maria Papadimitriou, Avliza zu einem Pilotprojekt zu machen, wie sie sagt "ein offenes Ohr geschenkt", und seine Kooperation zugesagt. Bis jetzt hat die Künstlerin erreicht, daß die Finanzierung eines Müllentsorgungssystems durch einen privaten Sponsor gesichert ist. Die Gelder für den Bau einer kleinen Kirche, die einerseits als Versammlungsort dient und andererseits der starken Religiosität dieser am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen Rechnung trägt, sind von der Regierung bereit gestellt. Die Pläne der Kirche sind im zuständigen Ministerium entwickelt worden. Von den möglichen Realisierungschancen ahnte Maria Papadimitriou nichts, als sie an dem Projekt zu arbeiten begann.

Ein " Autonomes Temporäres Museum für Alle "

1998 begleitete sie Freunde, die auf der Suche nach antiken Möbeln zu guten Preisen waren, in das Avliza-Viertel in Mendin: eine verwahrloste Gegend, zehn Kilometer westlich vom Zentrum Athens, das als Pied-à-terre für Wanderpopulationen wie die Roma und die Vlach-Rumänen aus dem Norden Griechenlands dient. Sie leben von dem Verkauf wiederaufgearbeiteter Möbel, die meist aus Osteuropa stammen, und in speziellen Geschäften in Athen angeboten werden.
Maria Papadimitriou war schon beim ersten Besuch nicht von den Antiquitäten, sondern von dem Ort selbst fasziniert, von der sich ständig verändernden "emotionalen Topographie". Sie wurde, wie sie es formuliert, eine "süchtige Besucherin", und nach einiger Zeit auch Vertraute der Anwohner. Das war, man kann es sich vorstellen, in einem Kontext in dem Fremde eher Feinde sind, ein sensibler und langwieriger Prozeß. Die Eigenwilligkeit, aber auch Präzision in der Auswahl der gesammelten Materialien für die Häuser der dort siedelnden Familien, ebenso ihre extreme Farbigkeit, ihr Sinn für dekorative Arrangements im Interieur sind im Kontext bildender Kunst um so faszinierender, weil diese Arrangements an Arbeiten zeitgenössischer Künstler erinnern. Die starke Präsenz dieser "beiläufigen Kunstwerke" erklärt sich zum Teil daraus, das sie nicht aus dem realen Leben herausgelöst worden sind. Gleichzeit aber war nur zu offensichtlich, daß es dieser Lebensgemeinschaft an allem fehlte.
Pure Faszination war der Antrieb für Maria Papadimitriou zu Beginn dieses Projektes. Der intellektuelle Ausgangspunkt,- und das ist ein eindeutig politisches Verständnis ihrer Künstlerrolle in diesem Projekt -, ist das Konzept des Künstlers als Kommunikator. Die Wahl des Titels "TAMA" und die Veröffentlichungen des Projektes im Kunstkontext katapultierte diese kleine Gemeinde direkt in den Diskurs um den Begriff des Museums. Das "Museum" wird hier wieder als "soziale Einrichtung" eingeführt. Dieses Konzept folgt der Idee das die Austreibung des realen Lebens eine Problematik des zeitgenössischen Kunst-und auch Museeumbetriebs ist. Gleichzeitig enthält der Titel eine Anspielung auf das zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht vorhandene "Museum für zeitgenössische Kunst" in Athen, und eröffnet so einen weiteren gedanklichen Spielraum.
Bei TAMA geht es um die Förderung und Entwicklung von Beziehungen, nicht um Ironie oder das Zelebrieren von Brüchen, ebensowenig um die Romantisierung des Begriffs "Nomadismus" oder gar die Reproduktion von Bildern eines besseren Lebens. Es geht zuerst einmal nur um die Verarbeitung der visuellen und empirischen Daten Avlizas. Was TAMA in erster Linie zu leisten versucht, ist der Respekt für die Vielfalt und eine positive Neubetrachtung des Alltagslebens.

Eigenarten der Lebensweise

Diese Wanderpopulationen haben einen ausgeprägten Sinn für Freiheit. Sie verstehen sich als griechische Bürger. Die Kinder gehen nicht gerne, wenn überhaupt, zur Schule. Einige der Häuser haben Fußböden aus verfestigtem Sand. Zentrales "Mobiliar" sind Teppiche, Decken und Tücher - vielfältig in Farbigkeit und Ornament, sie werden fast täglich sorgfältig gewaschen. Sie dekorieren die Dachuntersicht ihrer Häuser im Sommer mit weißen, im Winter mit bunt gemusterten dunkelfarbigen Tüchern, um es "wärmer" zu haben. Alles, was sie sammeln, wird systematisch geordnet. Einige der Häuser haben keine Fenster. Es werden Löcher in die Außenhaut geschnitten, die im Sommer mit Stoff zugehängt, im Winter mit Planen zugenagelt werden. Sie sind exzellente Köche , die Familienclans besuchen sich untereinander und sie feiern ihre Feste. Brot hat eine zentrale Bedeutung.
Ihre Häuser sind stark individualisiert. Der Grundriß der Ansiedlung, die Zuordnung der Hauseingänge und Hausrückseiten, die Gruppierungen der Häuser folgt keinem geplanten Raster oder wie auch immer gearteten System, sondern bildet eher eine emotionale Topographie. Durchläuft man das besiedelte Gebiet, folgt man der Figur eines Labyrinthes.
Die architektonischen "Skizzen" zu Prototypen von Infrastruktureinrichtungen, die in einem ersten Workshop mit den Architektinnen Hariklia Hari und Dora Papadimirtiou entstanden sind, beruhen in ihrem funktionalen Programm auf abgefragten Wünschen und sind immer wieder mit den Bewohnern diskutiert und weiterentwickelt worden. Es sind die ersten Überlegungen zu möglichen Prototypen für Infrastruktureinrichtungen, die auch auf andere Ansiedlungen übertragbar wären.
In Griechenland steht dies in der Tradition, die öffentlichen Einrichtungen im sozialen Bereich wie Schule oder Kindergärten als Prototypen zu bauen.
Folgende Funktionsprogramme wurden erarbeitet: Ein "kompaktes Gebäude", eine Art zentrales Service-Gebäude mit öffentlichem Telefon, WC, Erste-Hilfe-Raum, einem Raum für einen Sozialarbeiter, mit einem Treffpunkt, beispielsweise einer Café-Bar, einem Raum zum Spielen, einem Freiluftkino. Ein "Klassenzimmer", bestehend aus einem Raum, der mit moderner Technologie wie Computern ausgestattet ist und den Kinder einen spielerischen Zugang zum Lernen ermöglicht. Ein "öffentliches Bad", das einerseits das Grundbedürfnis nach einem heißen Bad befriedigt, andererseits aber auch als Treffpunkt fungieren kann. Ein "Werkstattgebäude", in dem Jugendliche verschiedene handwerkliche Fähigkeiten trainieren. Ein "Restaurant" und ein "Schlafplatz" für Gäste, die es dieser Lebensgemeinschaft ermöglichen soziale Außenkontakte aufzubauen und zu pflegen. Ein "System von Kiosken", in denen sie ihre Möbel anbieten können. Ein selbstgewähltes Design-Kriterium war, die Architektursprache so simpel wie möglich zu halten. Das erklärt sich einerseits vor dem Hintergrund der Finanzierbarkeit, andererseits sollte der Raum für eine Dekoration durch die Bewohner erhalten bleiben.

Anmerkungen

Caroline Raspé und Maria Papadimitriou stellten das griechische TAMA-Projekt Anfang September auf der "Urban Drift"- Konferenz, Panel : "engaged autonomy" in Berlin vor. Dieses Symposium wurde von Francesca Ferguson kuratiert und war einer der Schwerpunkte des "Festival for Digital Media, Business and Culture", in dem Projekte, die den städtischen Raum, die Peripherie und die Zwischenräume mobilisieren und reanimieren, vorgestellt und diskutiert wurden.

Derzeit arbeiten folgende Personen am TAMA-Projekt mit:

Adelina Von Fürstenberg

Art for the World

Andreas Angelidakis

Architekt

Antonis

Bewohner von Avliza

Bernard Kunding

Soziologe

Caroline Raspé

Architektin

Constantine Giannaris

Filmregisseur

De Anna Maganias

Künstlerin

Dimitris

Bewohner von Avliza

Eleftheria

Bewohnerin von Avliza

Eleni Kostida

Architektin

Fabiana de Barros

Künstlerin

Hariklia Hari

Architektin

Katharina Wuerthle

Künstlerin

Kyriakoula

Bewohnerin von Avliza

Michel Wuerthle

Künstler

Niki

Bewohnerin von Avliza

Panagiotis

Bewohner von Avliza

Spyros Petrounakos

Schriftsteller

Theodora Papadimitriou

Architektin

Yeorghia

Bewohnerin von Avliza

Yorghos

Bewohner von Avliza

Yorghos Tzirtzilakis

Architekt

Material

Bilder vom Projekt

Weitere Veröffentlichungen des Projektes in:

thebreedersystem.com

Magazine THE BREEDER, Athen, 2. Ausgabe

www.camera-austria.at

Camera Austria, International, Heft 74/2001

www.caam.net/es/atlantica.htm

Missing Atlantica, Nr.28, interview Yorghos Tzirtzilakis, Maria Papadimitriou